Eine Branche auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis

Wo das menschliche Bedürfnis nach berührenden Erfahrungen steigt, nimmt eine neue Qualität des Tourismus wieder Maß am Menschen statt an digitalen Daten. Das Gestalten von Resonanzräumen wird zur Schlüsselstrategie eines erfolgreichen Tourismus der Zukunft.

Das neue Bedürfnis nach individualisierung

Aktuell ist der Tourismus geprägt durch zwei Megatrends: Individualisierung und Konnektivität. Das Hauptaugenmerk vieler Tourismusanbieter liegt häufig auf der Personalisierung des Angebots mithilfe digitaler Tools. In der modernen westlichen Gesellschaft erfährt jedoch ein anderes Bedürfnis an zunehmender Relevanz: das nach „Berührung“. Wir sind auf dem Weg in eine neue Wir-Kultur, in der Beziehungen zu anderen Menschen, aber auch zur Natur und zu den Dingen um uns herum in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Diesen Wunsch nach einem In-Beziehung-Sein bezeichnet der Soziologe Hartmut Rosa als Resonanzbedürfnis.

Dieses Bedürfnis ist nicht neu, wohl aber seine Bedeutung.

Es ist der Gegentrend zur Anonymität und Automatisierung in der Dienstleistungsgesellschaft und zur Schnell- und Kurzlebigkeit in der Beziehungserfahrungen an Wert verloren haben. Wir befinden uns jetzt am Ausgang dieses Zeitalters: Menschen wollen nicht mehr Objekte einer Wirtschaft sein, sondern Intensität und Nähe erfahren. Resonanz ist eine neue Grundsehnsucht. Und die gewinnt vor allem dann an Raum, wenn Menschen sich in unbekannte Umgebungen begeben und wenn sie Muße haben, auf ihre inneren Bedürfnisse zu hören: im Urlaub.

Reisen bekommt dabei einen neuen Wert als Erfahrungsraum.

Für den Tourismus wird dieser Wertewandel elementar, denn er formt die Ansprüche der Masse an die Qualität ihres Urlaubs und er bedeutet, dass ein perfekt inszeniertes Setting oder eine hochprofessionelle Serviceleistung eine gute Urlaubserfahrung nicht mehr garantiert. Aufenthalte wirken übervermessen, überkonzipiert und überinszeniert, wenn die Atmosphäre fehlt. Menschen fühlen sich dann wohl, wenn sie an fremden Orten eine Verbindung zu den Menschen herstellen können, denen sie begegnen, wenn sie einen Bezug zu dem Ort spüren können, an dem sie sich befinden. Und auch dann, wenn Dinge und Erlebnisse sie zu berühren vermögen statt nur an ihnen vorbeizuziehen. Wie aber können Tourismusanbieter diesem Bedürfnis nach Resonanzerfahrungen begegnen?

Resonanz ist unplanbar, denn sie entsteht individuell und spontan.

Wohl aber lassen sich gute Rahmenbedingungen schaffen, die solche Erlebnisse wahrscheinlich machen: Dafür müssen Touristiker wieder direkt auf den Menschen statt auf den Kunden schauen und die richtigen Fragen stellen: Nicht „Was erzeugt bei diesen Menschen Resonanz?“ ist die Frage. Denn das impliziert, dass ein Unternehmen in der Lage ist, Resonanz zu planen. Wichtiger ist es zu erörtern, wie das Gefühl von Verbundenheit bei Menschen entsteht, wie sie selbst Beziehungen zu ihrer Umgebung herstellen und von sich aus gute Urlaubserlebnisse erreichen. Erst dieses Verständnis ermöglicht es, potenzielle Resonanzräume zu erkennen und etwas über die Rituale zu erfahren, die Menschen in diese Resonanzräume führen. Gleichzeitig müssen Tourismusanbieter nach ihrem eigenen Resonanzpotenzial fragen, um etwas über ihre eigene Wirksamkeit zu erfahren.

Diese neue Art von Resonanz-Tourismus wird genau jetzt vom Luxus zur Notwendigkeit.

Reisen muss als ganzheitliche Erfahrung gestaltet werden, von der Buchung bis zum Nachklang. Tourismusakteure werden vom Warenanbieter und Dienstleister zum Gestalter von Lebens- und Erfahrungsräumen. Und das nicht nur für Touristen, sondern für alle Menschen, die an lebendigen Orten zusammenkommen: Reisende wie Einwohner, und auch die eigenen Mitarbeiter. Denn sie sind Teil des Resonanz-Raums und prägen die Erfahrungen mit, die Menschen an einem Ort machen können.

TEXT/ Verena Muntschick vom Zukunftsinstitut 
FOTO/ Leon Skibitzki on Unsplash